All that remains
Friends in
Unusual Places
Along the Light
Ego me absolvo
Slave Heart
Mensch zu sein
(Arbeitstitel)
Format: Roman (Work in Progress, Auszug)
Setting: Dark Fantasy
Synopsis: Auf der Suche nach Freiheit lässt sich die Gefangene Izadora überreden, ihren Körper mit einem Dämon zu teilen - eine folgenschwere Entscheidung.
* * *
II: Gift
Das Buch der Pforten sah nach nichts aus. Ein kleines, gerade mal fingerdickes Büchlein, gebunden in abgeschabtes, rotes Leder. Ordinäres Rindsleder, keine Menschenhaut, soweit Iza das beurteilen konnte. Keine unheiligen Runen glänzten auf seiner Oberfläche, kein Heulen verdammter Seelen folgte ihm nach. Es war klein genug, dass sie es in der Innentasche ihres Mantels transportieren konnte und wirkte auf den ersten Blick eher wie das Tagebuch eines jungen Mädchens.
Sie starrte es an, wie es da auf dem Kaminsims lehnte, harmlos, unbedeutend. Schwer zu glauben, dass sie für dieses Ding vor nur wenigen Stunden das Leben eines Mannes riskiert hatte. Mehrerer Männer. Wenn man es genau nahm, sogar von über einem Dutzend Männer. Stechapfel war schwer zu dosieren, ebenso die Dosis Aggression, die ihre Verbündeten mitbrachten. Wenn man denn bezahlte Diebe und Mörder so nennen wollte, aber Iza war lang über solche kindischen Unterscheidungen hinaus. Man gewöhnte sich das schnell ab, wenn man hungrig und heimatlos war. Plus, Diebe und Mörder stellten keine unangenehmen Fragen und waren berechenbar. Kalkuliertes Risiko. Man konnte sich darauf verlassen, dass bei einem solchen Unterfangen garantiert irgendwo Blut fließen würde. Jeder wusste das, außer natürlich den zwei unglücklichen, tapferen Torwächtern, die jetzt Gesicht voran unter der Westbrücke lagen, gebrochen, geschunden. Kein guter Tod, aber welcher Tod war das schon.
Iza versuchte, der Erinnerung daran auszuweichen. Nicht, weil sie Schuld empfunden hätte - obwohl sie das tat, immerzu - sondern weil das Bild der zwei hingeschlachteten Menschen in ihrem Geist unangenehm... anziehend auszusehen begann, die Wunden im Fackelschein dunkel glänzend wie Rubin, das Muster der Schnitte durch ihre verdrehten Körper voller Verheißung... Sie schloss die Augen und erschauerte. Bald war es Zeit. Sehr bald.
Sie betrachtete das unauffällige Büchlein, dessen Weg auf ihren Kaminsims so viele Opfer gefordert hatte. Ein Jahr und mehr hatte sie danach gesucht, und auf der Jagd danach eine Spur aus Leid und Leichen hinterlassen, alles für eine vage Hoffnung. Sie ließ die Finger über den Einband gleiten. Das Leder war eiskalt, obwohl nur einen Meter entfernt ein Feuer im Herd prasselte, und fühlte sich seltsam samtig an. Wie die Berührung eines Liebhabers. Hastig zog sie die Hand zurück. Keine Chance. Es war nicht die Kraft in ihr, es jetzt in die Hand zu nehmen, es aufzuschlagen, es zu lesen und die Hoffnung zerschlagen zu sehen. Oft hatte sie das schon ertragen, und es wurde nie weniger schlimm.
Sie wandte sich vom Kamin ab und starrte stattdessen unruhig auf die dunkle, regennasse Straße hinaus. Sie war hungrig und fühlte eine fiebrige Hitze in den Gliedern, ein Zittern in den Augenlidern, ein Prickeln auf der Kopfhaut. Das Blut rauschte und pfiff in ihren Ohren. Wenn sie lange genug lauschte, konnte sie Stimmen darin hören, eine Vielzahl von Stimmen, flüchtig, verschwommen, gerade so an der Grenze des Wahrnehmbaren, dass man sich nie sicher sein konnte. Sie kannte diese Stimmen. Sie hörte sie in Flüssen, im Regen, im Rauschen des Windes, im Surren von Insekten. Sie hörte sie im Traum und sie wusste, dass sie in Wahrheit nur eine einzige Stimme waren, eine schmeichelnde, giftige Stimme. Die Stimme des Widersachers.
Jetzt bettelte er um Futter. Sie hatte es lange, lange hinausgezögert dieses Mal, und er strafte sie dafür. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzt Mal erholsam geschlafen hatte oder es geschafft, mehr als nur ein paar Bissen hinunter zu würgen. Alles war Asche und Feuer für ihre Sinne. Sie blickte über die Schulter zurück auf das Buch. Nein. Es war keine Kraft mehr in ihr dafür. Nicht so.
Sie holte tief Luft und umfasste das Amulett um ihren Hals, strich mit dem Daumen über die feine Gravur. Es fühlte sich an wie Schmirgel. Die stumpfen Kanten schmerzten bei der leichten Berührung, selbst das Lederband fühlte sich an wie eine tonnenschwere Kette in ihrem Nacken.
Es war Zeit.
Izadora mochte Tempel. Sie hatte sie schon immer gemocht, schon bevor heilig und profan die definierenden Eckpunkte ihres Lebens geworden waren. Eine Aura von Gewissheit haftete solchen Stätten an, von Ordnung und Pflicht. Selbst an den finsteren Orten, die sie auf ihren Reisen gesehen hatte, oder in den wildesten Ecken der Natur, unterlagen Tempel und Schreine unumstößlichen Regeln, Hierarchien, Traditionen. Es gab ihr ein beruhigendes Gefühl der Sicherheit, wie eine kleine Insel in einer wogenden, chaotischen See.
An heiligen Plätzen blieb nichts dem Zufall überlassen, alles hatte seinen Zweck und seine Bedeutung, jede Wandmalerei, jede Kerze, jede Opferschale. Alles ergab Sinn und fügte sich zu einem Bild eigenwilliger Schönheit - die farbenprächtigen Lichtmeere Lathanders, die stille Schlichtheit Khelemvors, selbst das geheimnisvolle Schweigen von Shar.
Izadora liebte Tempel. Sie fühlte sich dort geborgen, beschützt, getröstet.
Der Widersacher hasste Tempel, und das war ein Problem.
Eine steinerne Rose und eine Laterne über der Tür markierten den Eingang zum Schrein des Weinenden Gottes. Ein unauffälliges Haus, kaum mehr als ein hoher gemauerter Quader mit durchhängendem Dach, umrahmt von einem welligen, gepflasterten Platz. Moos wuchs zwischen den Steinen und der Regen sammelte sich in großen, dunklen Pfützen in den Kuhlen. Die Laterne schaukelte im Wind, leise quietschend an ihrem eisernen Haken, ein schwammiger gelber See in der Schwärze der Nacht. Keine Menschenseele war zu sehen um diese Stunde, und nichts zu hören außer dem stetigen Rauschen von Wasser auf Stein. Und dem Säuseln der Stimmen darin.
Iza schlich über den Platz, den Kopf gesenkt, den Mantel gegen die Kälte eng um die Schulter gezogen. Die Hitze in ihren Gliedern sorgte nur dafür, dass die Nacht noch eisiger erschien. Wassertropfen prasselten auf die Krempe ihres Hutes, rannen daran entlang und durchzogen ihren Kragen mit klammer Kühle. Unter der Laterne hielt sie einen Augenblick inne. Der Regen jammerte um sie herum, fordernd und drohend, gerade so leise dass sie nie sicher war, es wirklich zu hören, und ein leises Gefühl der Übelkeit pochte in ihrem Magen. Angst. Sie legte die Handflächen gegen die Balken des Portals, verzog das Gesicht ob des Gefühls von tausend Holzsplittern unter der Haut, und gab der Tür einen zögerlichen Stoß. Sie war nicht verschlossen. In Tempeln von Ilmater gab es nichts, was es zu stehlen lohnte.
Innen lag ein hallender, hoher Raum, kaum wärmer als draußen und nur erhellt von einer einzelnen Kerze auf dem Altar. Rasch trat sie über die Schwelle, drückte die Tür hinter sich zu und ließ Regen, Wind und Stimmengewirr hinter sich. Völlige Stille breitete sich aus. Die Luft roch nach Staub und Feuchtigkeit, wie ein alter Weinkeller. Oder ein Grab. Eine Weile stand sie regungslos, das Wasser aus ihrer nassen Kleidung tröpfelte geduldig zu Boden und kroch die Fugen entlang. Dann ließ sie zittrig den angehaltenen Atem entweichen. Sie drehte den Kopf von Seite zu Seite, um die verkrampften Muskeln ihrer Schultern zu lösen und wartete, bis der von dieser Bewegung verursachte Schwindel abebbte, während sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Die Einrichtung des Tempels war wenig dazu angetan, die Stimmung zu heben - schmale, harte Holzbänke, kahle Wände aus grauem Stein, schmucklose, leere Kerzenhalter - aber das war nicht, weswegen sie hier war. Heilige Stätten waren nicht notwendig für das, was sie vorhatte, das musste sie alleine durchringen, und ohnehin fand sie die Vorstellung befremdlich, dass Götter an bestimmten Orten präsenter sein sollten als anderswo. Aber es war gut, an einen bestimmten Platz gehen zu können, ein Ziel zu haben. An einer Stelle zu stehen, an der vor ihr schon andere gestanden waren mit ihren Nöten und Zweifeln, und die Trost erfahren hatten. Es war gut, sich nicht alleine zu wähnen in der Nacht.
Ihre Schritte hallten durch die Stille, als sie den engen Mittelgang hinunterging. Sie legte Hut und Mantel auf einer der Bänke ab, überlegte kurz und zog dann das nasse Hemd über die Schultern und die Stiefel von den Füßen. Niemand war hier, und selbst wenn - die Anhänger Ilmaters waren Heiler, und Heiler waren nicht gerade für ihr sensibles Gemüt bekannt.
Barfuss stahl sie sich die drei flachen Stufen hinauf zum Altar, kalter, rauer Stein an ihren nackten Sohlen. An der Wand dahinter hing ein Bildnis des Gebrochenen Gottes, mit viel Liebe aber wenig Fertigkeit aus dunklem Holz geschnitzt und poliert. Der Künstler hatte die alte Darstellung gewählt, eine gequälte Gestalt, aufs Rad geflochten. Kaum ein erhebender Anblick. Das Gesicht lag im Schatten, unlesbar, und die gebrochenen Glieder, von unten flackernd von der Kerze beleuchtet, schienen sich sachte zu bewegen. Sie schauderte und wandte den Blick ab. Dummes Mädchen. Hier gibt es nichts, was du fürchten müsstest, schalt sie sich. Aber sie wusste sehr wohl, dass sie hier nicht gänzlich willkommen war. Sie streckte beide Hände nach der Kerze aus, so nah, dass sie fast die Flamme berührten und das Wasser von ihrer nassen Haut dampfte, aber sie konnte die Wärme kaum spüren. Asche und Feuer für ihre Sinne, nicht mehr. Sie kniete nieder und ein erneuter leichter Schwindel zwang sie dazu, sich am Altarstein festzuhalten, kalter, rauer Stein an ihren Knien, kaltes, raues Tuch an ihrer Hand. Die Welt war nichts anderes mehr als kalt und rauh und unangenehm.
„Versuch es gar nicht erst“, flüsterte sie mit gesenktem Kopf, „du kannst nicht gewinnen.“
Die Phiole hatte sie durch die halbe Welt begleitet, ein Miniatur-Fläschchen mit dunkler, sirupartiger Flüssigkeit, jetzt nur noch ein zäher Rest am Boden, und einer winzigen, ausnehmend scharfen Klinge in einem Messingring an der Unterseite des Korkens. Tollkirsche und Traumkrautextrakt, die Garantie für eine... interessante Nacht. Ihr Silberfaden auf die andere Seite. Ein Bader aus Calimshan hatte es für sie angefertigt, Flasche und Inhalt, und ihr dabei unentwegt die Art furchtsamen, angewiderten Blick zugeworfen, den man für gewöhnlich für die betrunkenen Irren in den Gassen reservierte. Vielleicht war der Unterschied auch gar nicht so groß.
Sie entkorkte die Phiole, legte sie schräg und tauchte die Spitze der Schneide in die Flüssigkeit. „Ilmater Herr der Gnade, steh mir bei in dieser Stunde.“ Ein winziger Stich links, knapp unterhalb des Ellenbogens, wo die Pulsader nah unter der Haut lag. „Befreie mich von Furcht im Angesicht meiner Feinde.“ Ein Stich rechts, in genau berechneter Länge und Tiefe. Zwei kleine, leuchtende Punkte Schmerz. Eine passende Gabe für den Gebrochenen Gott. „Ilmater, Herr der Gnade, gib mir die Kraft, das zu erdulden, was getan werden muss.“ Sie verschloss die Flasche sorgfältig, breitete die Arme aus und richtete den Blick auf die Kerzenflamme, die in einem ungefühlten Luftzug sachte hin und her tanzte.
Eine lange Zeit lang geschah nichts. Iza spürte ihrem Herzschlag nach, wie er allmählich schneller wurde, dem Prickeln, Jucken, Pochen um die Einstichstellen, der wohltuenden Schwere, die durch ihren Körper kroch. „Ein Tropfen, höchstens zwei“, hatte der Bader gesagt, als er ihr die Flüssigkeit auf die Zunge träufelte, warm und unerträglich süß aus dem Kupfertöpfchen. „Zwei Tropfen, angenehme Träume. Zumindest meistens. Fünf, du wirst wünschen, nie geboren zu sein. Zehn, und du brauchst dich um nichts mehr zu sorgen, nie mehr. Das hier ist Gift, täusche dich nicht.“ Am Anfang war es leicht gewesen, ein Tropfen auf den Finger und abgeleckt, aber mit der Zeit ließ die Wirkung nach. Aus einem Tropfen wurden zwei, dann erst ein einzelner Stich, dann zwei. Bald würden auch die Stiche nicht mehr ausreichen und zu tieferen Schnitten werden, und die zwei Tropfen zu drei, zu fünf, zu zehn... Ein vereinzelter Blutstropfen quoll aus der kleinen Wunde an ihrem linken Arm, rund und glänzend, schwoll an, zitterte, fiel zu Boden.
Dann, langsam, veränderte sich das Licht. Allmählich wurde es heller, weißer, intensiver als es für eine Kerzenflamme möglich war. Eine fast schon fühlbare Kugel aus Licht hüllte sie sein, wunderschön und unheimlich zugleich. Es floss über den matten Stein wie Wasser und brachte ihn zum Glühen, so gleißend dass sie die Augen dagegen zukneifen musste. Helligkeit umgab sie, ein konturloser weißer Schimmer in dem alles, der Altar, die Stufen, Säulen, Bänke ineinander floss zu vagen Schemen und dann verblasste. Sie war allein in einer Welt ohne Tiefe, ohne Dimension, ohne Zeit. Die leere Leinwand ihrer Träume.
„Izadora.“ Sie wandte sich der Stimme zu, ergeben in das, was der Traum ihr zeigen würde. Sie ahnte es bereits.
Er saß allein auf dem Geist einer Bank, zusammengesunken, ausgezehrt, den Kopf gesenkt. Die blütenweiße Pilgerrobe hing lose um seine knochige Traumgestalt, die Falten schimmernd im milchigen Licht. Das komplizierte Muster aus hauchfeinen, roten Fäden leuchtete, flimmerte wie Glühwürmchen, und genauso hypnotisch. „Izadora“, sagte er erneut, langsam, mühevoll, als ob das bloße Wort ihm Schmerzen zufügte. Diese Stimme... Iza erschauerte. Ein Meer von Erinnerungen stieg in ihr auf, die Stimmen aller Menschen, denen sie je Liebe entgegen gebracht hatte, alle in diesem Klang vereint, Mutter, Vater, Lehrer, Freunde. Und Geliebter. Sie wusste, dass das hier nicht echt war, dass die warme, geduldige Stimme nichts weiter war als eine Maske, der Unterton von Enttäuschung und langmütig ertragenem Leid kalte Berechnung. Aber es war schwer, es wirklich zu glauben.
„Suzuamur.“ Sie setzte sich neben ihn, in einigem Abstand. Nicht, weil er ihr etwas hätte antun können - die Fesseln glühten schwach um seinen Hals, seine Handgelenke, seine Knöchel - sondern um der süßlichen Vertrautheit zu entgehen, die von der Gestalt ausstrahlte wie Hitze von einer Flamme.
Der Dämon, der ihren Körper teilte, hob den Kopf. Er sah sie an, Augen alt und tief wie Brunnenschächte in einem hageren Gesicht, das auf irrsinnig machende Weise die Züge ihrer Erinnerung trug. Jedes einzelne Opfer ihres Lebens und ihrer Suche blickte sie aus diesem Gesicht an, jeder flehentliche, zornige, fassungslose letzte Blick den sie je gesehen hatte. Es zerrte an ihrem Herzen, wider besseres Wissen.
„Wir hungern“, sagte er leise, mit kaum verhohlenem Schmerz. Und der war echt, das wusste sie. Dafür hatte sie gesorgt.
„Und du bringst mich um.“ Es hatte herausfordernd klingen sollen, aber es kam eher klagend heraus, wie die Rechtfertigung eines untreuen Liebhabers.
„Wir wissen es“, flüsterte Suzuamur, der Suchende, der Unerfüllte, der Unersättliche. „Wieso, Izadora, wieso zwingst du uns diesen Schmerz auf, uns allen? Sind wir nicht beide hier gefangen?“
Iza lachte bitter und wandte ihren Blick von den dunklen Augen ab, ehe der Drang zu stark werden konnte, sich fallen zu lassen, aufzugeben, endlich zu schlafen, hier, in trügerischer Sicherheit. „Falsch.“ Sie streckte ihm die linke Faust entgegen. Die Ringe aus Narben waren weiß, fast leuchtend im farblosen Licht, glimmende Runenbänder um ihre Handgelenke, ihre Knöchel, ihren Hals. „Du bist mein Gefangener. Und du tust Dinge, die ich nicht zulassen kann. Du kannst mich töten, aber ich lasse dich nicht frei. Versuch es gar nicht erst, du kannst nicht gewinnen. Wenn ich sterbe, fährst du zurück in den Abgrund wo du hingehörst, und ich weiß dass das nicht deinem Plan entspricht.“
Ein Schatten huschte über das gütige Gesicht, und für einen Augenblick flackerte das ruhige, weiße Licht um sie wie eine Flamme vor dem Verlöschen. Dann zog der Moment vorüber. Der alterslose Mann nickte traurig mit dem Kopf. „Wahr, wahr. Jedoch... es war auch nicht Teil unseres Plans, in diesem schwachen Leib angekettet zu sein, in der Zwischenwelt. Hungrig. Ohne Antworten. Wir beginnen, die Aussicht auf Heimkehr wohlwollender zu betrachten. Auch wenn... wir es bedauern, diesen lieblichen Körper zu zerstören.“
„Kaum“, murmelte Iza, aber wie immer war es schwierig, sich der bestechenden Logik, der offenkundigen Vernunft dieser überaus zivilisierten Stimme zu entziehen. „Es gibt noch eine andere Möglichkeit.“ Sie betrachtete den Dämon aus dem Augenwinkel, die kleine, magere, harmlose Gestalt. Harmlos wie das Buch der Pforten auf ihrem Kaminsims. Aber sie wusste es besser. Sie hatte ihn einmal unterschätzt, am Anfang, eingelullt von seiner scheinbaren Besonnenheit, mit fatalen Folgen für jene, die ihr Unterschlupf gewährt hatten. „Dein Wahrer Name. Sag ihn mir, und ich lasse dich gehen.“
Die Veränderung kam plötzlich, schockierend, obwohl es nicht das erste Mal war, dass sie seine Maske durchbrach. Ah, vorlaut, trotzig, das war schon immer ihr Problem gewesen. Zu unbedacht, zu leidenschaftlich. Was ihr das Ganze erst eingebrockt hatte. Ilmater Herr der Gnade, steh mir bei in dieser Stunde...
Das Licht schwand, und von einem Moment auf den anderen brüllte ein Sturm um sie herum, ein Sturms aus Sand und Scherben und verfestigter Dunkelheit. In der Dunkelheit waren Schemen, entsetzliche, flüchtige Eindrücke von Dingen, die Menschen nicht sehen sollten. Sie fühlte ihre Gedanken zerstoben wie ein Netz Schmetterlinge, leuchtende Fetzen die unerbittlich von ihr fort gerissen wurden und nichts zurückließen als nacktes, hilfloses Grauen, erstickt von der Gestalt des Dämons. "Ist es das, was du willst?", grollte Suzuamur, der Unersättliche, der erbarmungslose Bewohner ihrer Träume, die Stimme mächtig wie die Wurzeln der Berge. "Sterben?"
Befreie mich von Furcht im Angesicht meiner Feinde...
Das weiße Leuchten der Fesseln wirbelte um sie herum, glühte, pochte um ihren eigenen zusammengekrümmten Körper, zerrte an ihr wie ein rasender Hund an der Leine, riss an ihrem Geist, sickerte in ihre Gedanken wie Gift, zeigte ihr jedes ihrer Vergehen, jede ihrer Sünden, jeden Fehltritt ihres verfluchten Lebens in widerlicher Klarheit.
"Du bist nichts für uns, Mensch", donnerte der Suchende, und die Vielzahl von Stimmen bohrte sich in ihren Schädel wie ein stechender Finger, "dein Gott ist nichts für uns, nicht mehr als ein Funke. Dein Leben ist vergessen, bevor es begann. Unser Name würde dich zerfetzen in einem Augenblick! Du glaubst, du kannst uns für immer binden?" Gelächter, brodelnd und zerstörerisch wie Magma rollte über sie hinweg. "Ich bin Der Suchende. Ich bin Der Unerfüllte. Ich bin der Unersättliche!" Sie kauerte sich unter dem Tosen zusammen, ein Häuflein Elend, sturmgepeitscht, allen Willens beraubt. "Es gibt kein Entkommen für dich!" Leiser jetzt, näher, eindringlicher, wie ein langsames Messer, und genauso schmerzhaft. "Wir sind ewig. Wir sind immer. Wir kennen das Geheimnis der Schöpfung." Sie fühlte die Bande zwischen ihnen entgleiten, entschwinden wie die Reste eines Traums am Morgen, das immerwährende Band das ihn an sie kettete, und sie an ihn. "Am Ende triumphieren wir. Und wir werden es genießen, deine kleine Seele in Stücke zu reißen. Keine Gnade für dich, Mensch."
Ein winziger Funke klaren Gedankens flammte in ihr auf. Gnade. Sie klammerte sich an dieses Wort. Dem wird Gnade zuteil, der erduldet. Dies war die Wahrheit, wenn es je eine gab. Kein anderes Geheimnis der Schöpfung war von Wichtigkeit für sie.
Die letzten Fetzen der Ketten rannen durch ihre tauben Finger, das Licht darin verebbte.
Gib mir die Kraft, das zu ertragen, was getan werden muss.
Sie breitete die Arme aus, richtete sich auf entgegen aller Furcht, stemmte sich gegen den Sturm, gegen die Schatten darin, gegen Suzuamur, ein winziger, leuchtender Punkt in einem schwarzen Meer aus Chaos.
"Wie ich dich rief, so banne ich dich", flüsterte sie in das Tosen, unhörbar, aber ein heißer Schmerz brandete als Reaktion ihren Handgelenken auf. "Wie ich dich entfesselte, so schlage ich dich in Ketten." Die Runen auf ihren Knöcheln brannten, stachen, sengten sich in ihre Haut als wäre das Brandeisen, das diese Wunden geschlagen hatte, nicht schon vor Jahren dem Rost anheim gefallen. "Wie ich meinen Körper dir gab, so herrscht mein Geist über dich." Das Brennen überzog ihren ganzen Körper, als der Dämon sich wehrte, sich gegen die Fesseln warf, die erneut Besitz von ihm ergriffen. Feuer. Feuer und Asche, in jeder Faser ihres geschundenen Wesens. "Ich lasse dich nicht gehen..." Sie ballte die Fäuste, biss die Zähne zusammen, zerrte die Fesseln enger mit allem, was von ihrem Willen noch übrig war. Die Stimmen heulten wortlos, klagten, stachen nach ihr, weißglühende Marter pulste durch die Runen auf ihrer Haut. "Ich lasse dich nicht gehen!"
Dann war es vorbei, plötzlich, fast genauso schockierend wie es begonnen hatte. Sanftes, farbloses Leuchten umgab sie, und Stille. Was aussah wie ein altersloser Mann saß neben ihr, zusammengesunken, den Kopf gesenkt, als hätte es sich niemals bewegt. Langsam öffnete sie die verkrampften Hände. Der Schmerz war noch da in den Runenbändern, aber dumpfer, wie das Glühen nach einer Feuerbrunst. Sie konnte nicht umhin, den Atem zittrig entweichen zu lassen.
"Du kannst uns nicht ewig halten. Du weißt das", sagte der Mann neben ihr ausdruckslos.
Sie nickte schweigend. Es hatte keinen Sinn, das zu leugnen. Nicht hier.
"Wir... hungern", sagte er sanft, wie ein Vater, der einem störrischen Kind eine unumstößliche Wahrheit nahe brachte. "Du kannst uns nicht vernichten. Wir wollen dich nicht töten. Was ist mit der Abmachung? Ein Mond ist voll und wieder leer geworden, und noch einer. Und wir hungern."
Iza verzog angewidert das Gesicht. Die Abmachung. Ein Pakt mit dem Teufel reinsten Grades. Ein Kompromiss, der sie am Leben hielt, gerade so. Dieses Mal hatte sie die Abmachung verletzt, unwillig, sich unter den Willen Dämons zu beugen, geplagt von den Gesichtern der Toten in ihren Träumen, und das Ergebnis war, wie das Mal zuvor, beinahe katastrophal gewesen.
Das weiße Licht um sie wurde allmählich schwächer, und sie fühlte die Wirklichkeit an den Rändern ihres Bewusstseins kratzen, kalter, rauer Stein, der Geruch von Staub und Feuchtigkeit. Die Wirkung der Droge ließ nach. Es blieb nicht mehr viel Zeit.
"Die Abmachung hat Bestand", sagte sie schließlich tonlos. Kein Zweck, sich dagegen zu wehren. Erschöpfung kroch langsam ihre Glieder entlang, Schwere wie im Schlaf. Das Licht floss weiter ab wie Wasser aus einem Zuber.
Suzuamur lächelte sie an, und eine Welt vertrauter Gesichter lächelte mit ihm. Das Herz tat ihr weh davon. Ihre Lider waren schwer, bleischwer, sie konnte die Augen nicht offen halten. Alles verschwamm um sie herum.
"Schlaf....", flüsterte der Dämon freundlich. "Bald wird es dir besser gehen."
"Suzuamur", murmelte sie matt. Das blutrote Muster auf seiner weißen Robe tanze vor ihren Augen, als alles langsam in die Dunkelheit glitt. Sie lächelte zurück. "Du kennst nicht das Geheimnis der Schöpfung. Und du weißt nichts von Gnade." Das letzte, was sie wahrnahm, war sein Lachen, leise, amüsiert, feinsinnig. Und dann gnädiges Vergessen.
Der Beginn des Tages war ein fahler Schimmer ohne Kraft. Dünnes, graues Morgenlicht fiel durch ein schmales Fenster auf die verdrehte hölzerne Gestalt des Gebrochenen Gottes, über das ausgebleichte Altartuch, über den nüchternen Kerzenhalter und den heruntergebrannten Wachsklumpen darin, über die schmucklosen Stufen.
Iza betrachtete müßig die Marmorierung der Steine unter ihrer Hand, dunkelgraue Adern auf etwas weniger dunkelgrauem Stein, die Sekunden auskostend zwischen dem Erwachen und dem Bewusstwerden, die wenigen Augenblicke ohne Gedanken, ohne Sorge. Selige Unwissenheit. Dann drang die Kälte langsam zu ihr durch. Harter Boden. Pochen im Schädel. Trockene Augen, trockene Zunge, trockener Hals. Unmöglich zu schlucken. Beißen, Jucken, Stechen in den Unterarmen. Langsam setzte sie sich auf und verbiss sich ein gequältes Ächzen, als ihre verkrampften Muskeln vehement protestierten. Die Stiche auf ihren Armen waren nicht mehr als winzige, dunkle Punkte, aber die Haut darum leuchtete jetzt in wütendem Rot, durchzogen von weißen Striemen. Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, ihre Fingernägel zu unschönen Stumpen herunterzustutzen, nachdem sie sich die ersten Male die Arme im Schlaf bis aufs Blut zerkratzt hatte, aber die Striemen würden trotzdem in den nächsten Stunden anschwellen und brennen wie Rutenhiebe. Sie rieb gedankenverloren mit den Fingerspitzen darüber. Ein Jammer. Als Mädchen war ihre Haut weiß und weich gewesen wie Sahne. Bevor sie angefangen hatte, sie mit einer giftigen Klinge zu bearbeiten, um einen Dämon gefangen zu halten. Bevor ihr Geliebter nächtelang mit einer glühenden Nadel Zeichen in ihren Leib gebrannt hatte, um den Dämon einzufangen. Bevor sie zugestimmt hatte, Leib und Seele zu opfern für eine vage Chance auf Freiheit. Sie schnaubte abfällig. Freiheit, was für eine Farce. Seit dieser Entscheidung trug sie ihr Joch bloß unverhohlen, die Fesseln, die Suzuamur und sie selbst unerbittlich einander auslieferten für alle Welt sichtbar. Die Runenbänder um ihre Gelenke flammten wund und feuerrot, schmerzhaft glühende Dornenringe um ihre Knöchel, ihre Handgelenke, ihre Kehle, die feinen Narben heiß und hämmernd wie frisch versengt. Der Schmerz würde bald nachlassen, die Vergiftung zurückgehen. In wenigen Tagen würden die Wunden wieder verheilt sein, wenn sie sich nicht entzündeten, und nichts zurücklassen als dünne, weiße Schriftzeichen. Eine Zeit lang würde sie schlafen können und essen und so tun, als wäre nichts ungewöhnlich. Und dann, am nächsten Neumond, alles unausweichlich von vorn, Gift, Traum, Kampf, Schmerz. Und Blut, viel davon.
Sie stand auf, vorsichtig, steifgliedrig wie eine Greisin. Ilmater der Leidende sah von seinen hölzernen Rad auf sie hinab, gütig, gelöst, als ob all die Pein der Welt, die er ertrug, ihm nichts anhaben konnte. Iza wünschte, sie hätte seine Gelassenheit teilen können. Ich danke dir für deinen Beistand. Möge mir vergeben werden für das, was getan werden muss. Sie nickte dem Bildnis respektvoll zu, dann schlüpfte sie rasch in ihre kalten, klammen Kleider. Behutsam prüfte sie die Schneide ihres Dolches mit dem Daumen, fühle den Dämon in seinem unruhigen Schlaf erschauern.
Sie hatte den tollwütigen Hund an die Kette gelegt. Jetzt war es Zeit, ihn zu füttern.
III: Mord
Der Regen hatte aufgehört. Die Pflastersteine glänzten nass im schwachen Licht der Dämmerung und die Luft in der Gasse roch metallisch, nach schalem Wasser, Alkohol und Urin. All die lieblichen Düfte großer Städte bissen in Izas überempfindliche Nase. Der Morgen kam zäh, nicht mehr als ein zorniger roter Streifen auf der Unterseite der unbewegten Wolkendecke. Bleicher Nebel waberte in formlosen Fetzen zwischen den gedrängten, maroden Hütten. Der Tag versprach, so düster und kalt zu werden wie der vorhergehende.
Iza fror, wie meistens. Sie zog den Mantel fest um die Schultern und den Hut ins Gesicht, aber ihre Kleider waren feucht und wärmten kaum, dafür scheuerten die langen Ärmel und der hochgeschlossene Kragen unangenehm über ihre wunde Haut, was nicht eben dazu angetan war, ihre finstere Stimmung zu heben. Sie schritt langsam durch die engen Gassen, in denen noch die Schatten der Nacht in störrischen Flecken klebten wie trunkene Gäste, die man nicht loswurde. Hier und dort leuchteten Laternen durch den morgendlichen Dunst, und einige trunkene Gäste die man offensichtlich losgeworden war, wankten raumgreifend an ihr vorbei oder hatten sich gelegentlich an einer Hauswand zusammengesunken häuslich eingerichtet. Die Reste einer gewöhnlichen Nacht voller Weinbrand, Verzweiflung und käuflicher Liebe sammelten sich im Rinnstein. Iza sog den üblen, vertrauten Geruch ein, als sie in eine Gasse einbog, die abwärts führte und aus der ihr das stechende Aroma von Tang und Salz entgegenschlug. Elendsviertel rochen überall auf der Welt gleich. Sie hatte viele davon gesehen, durchwandert, bewohnt auf ihrer Flucht, hatte auf derben Decken geschlafen und billige, wässrige Suppe gegessen, hatte anrüchige Geschäfte in rauchigen Würfelhallen abgeschlossen, und mehr als nur eine Nacht fehlte komplett in ihrer Erinnerung, dem tröstenden Gott des Rausches geopfert. Sie kannte viele dieser Viertel, und im Grunde waren sie alle gleich.
Weiter vorne erbrach sich verlebt aussehender junger Mann geräuschvoll auf die Straße, und als sie an ihm vorbeiging hörte sie ihn leise schluchzen. Einen Augenblick blieb sie stehen. Lauschte auf sein Weinen, ein verlorener, kläglicher Laut. Was für eine Art Leben brachte einen ausgewachsenen Mann dazu, im Morgengrauen weinend durch die Gosse zu stolpern? Ihre Hand stahl sich unter dem Mantel zu dem Dolch an ihrem Gürtel. Ein unerfreuliches, ein unerträgliches Leben mit großer Wahrscheinlichkeit. Ihr Herzschlag beschleunigte sich unwillkürlich, als sie sich zu ihm umdrehte. Er? Eine Tür öffnete sich, und ein zweiter junger Mann wankte auf die Straße. Er legte einen jovialen Arm um die Schultern des anderen und plapperte gutgelaunt in einer fremden Sprache, während er seinen schluchzenden Freund durch den Nebel davon führte, zwei undeutliche Schemen, die bald ganz verschwunden waren. Langsam, ganz langsam löste sie die Finger vom Griff ihrer Waffe. Das Blut pochte nervös in ihren Schläfen. Sie schloss einen Moment die Augen und atmete tief die kalte, feuchte Luft.
Nein. Er nicht.
Das war das Problem: es war unmöglich, die Traurigen von den Lebensmüden zu unterscheiden, die Ruppigen von den wahrhaft Grausamen. Es war unmöglich über gut oder böse zu richten oder überhaupt zu wissen, wo die Grenze verlief - sie selbst war der beste Beweis dafür. Diebe, Zuhälter, Trunkenbolde, Süchtige, sie alle hatten Freunde, Geliebte, Eltern, Kinder, sie alle trugen Freude und Leid in sich und brachten Freude und Leid in die Welt, kleine Wellen im Gefüge der Schöpfung, deren Auswirkungen niemals abzuschätzen waren.
Es war unmöglich zu entscheiden, wer den Tod verdiente und wer nicht.
Sie wandte sich ab von der Stelle auf die sie gestarrt hatte, wo der jammervolle Mann sich vom Branntwein der Nacht getrennt hatte und gerade so mit dem Leben davon gekommen war, ohne es zu wissen. Weiter die Straße hinunter, in Richtung Hafen. Häfen waren immer gut für das, was sie vorhatte. Unmöglich zu entscheiden, und doch unvermeidlich. Wen auch immer sie an diesem klammen Morgen auswählte, dessen Gesicht würde ihre Träume heimsuchen, würde sie aus dem gütigen, wandelbaren, ganz und gar entsetzlichen Gesicht von Suzuamur anblicken, vorwurfsvoll, klagend, voller Fragen, die sie nicht beantworten konnte. Der Gedanke allein ließ ihre Stimmung noch einige Grade tiefer sinken. Sie zog die Stirn missbilligend in Falten und biss die Zähne zusammen, dass ihre Kieferknochen wehtaten. Kein Sinn, darüber zu jammern. Oft hatte sie versucht, der Abmachung zu entfliehen, aber es war zwecklos. Der Dämon war gefesselt und konnte weder selbst handeln noch zurückkehren in den Abgrund, aber er hatte mehr als genug Einfluss über sie, um ihr Leben zu Hölle zur machen, wenn sie ihm gänzlich verweigerte, was er begehrte. Es hieß entweder töten oder selbst sterben, und bei allen Göttern, dazu war sie noch lange nicht bereit. Wenigstens konnte sie so versuchen, nur jene zu auszuwählen, die es auf irgendeine Art verdient hatten. Ein schwacher Trost, aber besser, als sich sinnlos darüber zu zerfleischen, was sie nicht ändern konnte. Das Leben war selten freundlich, nicht zu ihr, und auch zu sonst niemandem.
Wasser schwappte träge gegen die Kaimauer, dunkles, schaumiges, trübes Wasser. Langsam ging sie daran entlang, ziellos, ließ den Blick an den Rändern aus Salz und toten Algen entlang gleiten. Es war still hier um diese frühe Stunde, der hektische Hafenbetrieb würde erst in einigen Stunden losgehen, Nebel und Uhrzeit spielten in ihre Hände - keine Zeugen. Nicht, dass in diesen Gegenden eine Leiche mehr oder weniger besonders aufgefallen wäre, aber ein unbeirrbarer Sinn führte sie jedes Mal wieder zu Umständen, an denen das Morden besonders leicht fiel - der einzige Sinn, der immer schärfer wurde je länger sie die Abmachung hinauszögerte, während alle anderen abwechselnd den Dienst quittierten oder lächerlich überreagierten. Jetzt lauschte sie auf diesen Sinn, die Augen halb geschlossen, folgte dem leisen Zerren und Kribbeln in ihren fiebrigen Eingeweiden.
Da. Ein Hauch von panischer Angst zog an ihr vorüber wie Rauch von einer Feuerstelle. Ein erstickter Schrei. Sie folgte dem Eindruck und lugte wachsam um eine Hausecke. Ein schmaler, von Unkraut überwucherter Innenhof. Wäscheleinen kreuzten auf verschiedenen Höhen zwischen den aufragenden Hauswänden, verrottendes Fachwerk mit verrottendem Putz, die Kleider und Laken daran wehten wie bleiche Geister im weißen Dunst. Sie konnte Stimmen hören, das grobe Lachen von zwei Männern, und dumpfes, beinahe tierisch anmutendes Ächzen. Sie kräuselte die Lippen zu einem harten Lächeln. Immerhin, ihr Lieblingsverbrechen. Lautlos schlich sie zwischen den Laken entlang tiefer in den Hof hinein Der Geruch von Waschseife konnte nicht die scharfen Ausdünstungen von Schweiß und billigem Wein überdecken, als sie behutsam ein paar fadenscheinige Leintücher zur Seite schob.
Sie waren unvorsichtig. Zwei Männer standen mit dem Rücken zu ihr, ihre Aufmerksamkeit gefesselt von einem dritten, der sich zwischen den Beinen einer strampelnden Frau abmühte. Ihr aufreizendes Kleid war zerrissen, ihre Nase geschwollen und blutig, tränenverschmierte Schminke verunzierte ihr gepudertes Gesicht. Ihr Peiniger hielt sie mit beiden Armen am Boden, und es erforderte nicht viel Phantasie sich vorzustellen, was dieser Szene vorangegangen war. Das endlose, tränenerstickte Flehen der Frau stellte ihr die Nackenhaare auf. Die Männer waren betrunken, unaufmerksam, selbstsicher. Nur einer der Zuschauer hatte seine Waffe parat, ein Messer nicht unähnlich ihrem eigenen, schlicht und schartig, der andere schwenkte stattdessen eine halbleere Flasche, als er seinen Kumpan anfeuerte. Der am Boden war in keinem Zustand, sich um seine Verteidigung zu kümmern, schwitzend, knurrend, mit glasigem Blick. Leichtes Spiel. Iza biss sich auf die Unterlippe, bis sie Blut schmeckte, fühlte einen unwillkürlichen Schauer der Erwartung, als sie langsam, ganz langsam den größeren ihrer beiden Dolche zog, die Klinge zwischen Daumen und Zeigefinger haltend um kein Geräusch zu verursachen. Sie verabscheute diese Regung, jedes Mal, aber es ließ sich nicht abstellen. Andererseits war sie dankbar dafür, Erregung war besser als Furcht, und Grübeln und Hader würden sich später früh genug einstellen.
Mit klopfendem Herzen, Gänsehaut am ganzen Körper, aber unbeirrbar, näherte sie sich ihrer Beute. Der Griff ihres Dolches war eine beruhigende, vertraute Präsenz in ihrer Hand, wie ein Freund an ihrer Seite. Sachte Schritt um Schritt, bis sie kaum zwei Armlängen vom Rücken der johlenden Männer entfernt war. Leichtsinnig, dachte sie, dann trat sie einen gemessenen Schritt vorwärts, holte aus und vergrub die Klinge ohne Zaudern bis zum Heft unter den Rippen des Bewaffneten, präzise an lebenswichtigen Organen vorbei. Mit dieser Art Wunde konnte man noch stundenlang weiterleben, sie hatte das überprüft. Der Mann ging auf die Knie, ehe er dazu kam, einen Schrei auszustoßen, Augen groß vor Verwunderung, und es dauerte einige Sekunden, ehe der andere Zuschauer erkannte, was vor sich ging. Er runzelte verwirrt die Stirn, schwankte leicht auf den Füßen, dann wandelte sich der Ausdruck auf seinem Gesicht von Überraschung nach Schrecken, als sein unsteter Blick über den knienden Körper seines Kameraden wanderte, auf Izas zweite Klinge an dessen Kehle stieß und an ihrem finsteren Lächeln hängen blieb.
"Guten Morgen", bemerkte Iza gleichmütig. Das Schnaufen und Stöhnen am Boden hatte aufgehört, drei Menschen starrten sie an, einer erschrocken, einer empört, einer angsterfüllt, einer zitterte unter ihrem eisernen Griff. Mit geübtem Ruck brachte sie ihren Dolch wieder an sich, schnell und gerade, um überflüssigen Schmerz zu vermeiden. Der Verletzte stieß einen einzelnen, dumpfen Laut aus, und eine flüchtige Erinnerung an den Anfang dieser Nacht durchzuckte sie. Es schien Tage her, dass sie ihrem alten Lehrer ein Messer in die Schulter gebohrt hatte um ihn dazu zu zwingen, einen vierzig Jahre alten Schwur zu brechen.
"Ich empfehle euch dreien, euch möglichst schnell und möglichst leise aus dem Staub zu machen, wenn ihr leben wollt." Ihre Stimme war eisig, berechnend, sie verriet nichts von dem mörderischen Aufruhr in ihr. "Ich gebe euch genau eine Chance dazu, und zwar genau jetzt. Schreit, und ich garantiere euren Tod. Er wird nicht leicht sein." Sie fühlte das vertraute Zittern und Beben in ihrem Innern, die hitzige Erwartung, das Zerren und Reißen an den Ketten. Der Dämon war jetzt fast wach, er wand sich unter der Oberfläche, er starrte aus ihren Augen, ausgehungert, begierig.
Die zwei Männer sahen sich einen Augenblick an, dann zurück auf ihren Gefährten, dann auf Iza. Dann zog der eine seine Hose hoch, stolperte auf die Füße und schwankte so rasch davon, wie es seine unsicheren Schritte zuließen, dicht gefolgt vom Kollegen mit der halbleeren Flasche. Die geschändete Kurtisane raffte ihre zerrissenen Röcke zusammen und rannte in den Nebel, ohne sich auch nur umzudrehen. Iza nahm es ihr nicht übel. Sie wusste, dass sie aussah wie der Tod auf zwei Beinen, und wahnsinnig obendrein.
In der anschließenden Stille konnte sie das leise Wimmern des verletzten Mannes hören. Sie trat um ihn herum, das kleinere ihrer Messer, ein langes, schmales Ding mit nadeldünner Spitze, unverwandt an seiner Halsschlagader. Er hatte die Augen zusammengekniffen und bibberte in ungespielter Todesangst. Sie betrachtete sein schmerzverzerrtes, leichenblasses Gesicht. Jünger, als sie ihn von hinten geschätzt hätte, die Narben eines schweren Lebens auf seiner Haut, Pocken, Schnitte, schlechte Ernährung, eine gebrochene Nase, ein vernachlässigter, blonder Bart. Ein Teil von ihr empfand heftiges Mitleid - Freunde, Geliebte, Eltern, Kinder - ein anderer brodelte vor Abscheu und noch einer fühlte nichts als kühle Faszination. Und brennenden, irrationalen Hunger. Sie klammerte sich an diesen Teil und schob alles andere weit, weit von sich.
"Ich hab' nichts gemacht", wimmerte der Mann, "nichts gemacht..." Seine Lippen zitterten unkontrolliert, Tränen rannen unter seinen geschlossenen Lidern hervor.
"Shh..." Sie legte sachte eine Hand um seinen Nacken, kalter Schweiß an ihrer Handfläche, und strich mit dem Daumen über die schmutzige Wange. "Sieh mich an", befahl sie ihm leise. Seine Augen gingen zögernd auf, rotumrandet, panisch glänzend, die Augäpfel von winzigen Adern durchzogen. Sie waren hellbraun. Wild zuckten sie über ihr Gesicht. Iza fing seinen Blick ein, hielt ihn fest, mit all der ruhigen Entschlossenheit einer Würgeschlange. "Du kennst die Abmachung", flüsterte sie, und die Worte waren nicht für den unglücklichen Todgeweihten bestimmt, der vor ihr kniete und auf sein Ende wartete. "Ein einziges Leben. Und kein unnötiger Schmerz." Ihr Daumen tastete seinen Kiefer entlang nach der weichen Stelle unterhalb des Ohres. Sein Pulsschlag unter der tränennassen Haut schmiegte sich heiß und rasend gegen ihren Finger.
"Bitte..." wisperte der Mann, seine Augen starrten groß und angstvoll in ihre. Sein Atem stank nach Fusel, kaltem Rauch und Hoffnungslosigkeit.
Sie lächelte ihn an, und entgegen aller Entschlossenheit fühlte sie einen schmerzhaften Stich. "Früher oder später zahlen wir alle für unsere Fehler, ob schuldig oder nicht." Ah, welch finstere, wahre Worte. Ein Priester, der inzwischen nicht mehr lebte, hatte sie benutzt, als er ihre Zukunftsaussichten umriss. "Mögen deine Sünden dir vergeben sein. Geh ohne Bedauern. Finde Frieden."
Dann, mit einem dutzendfach geübten Handgriff, stieß sie die schlanke Klinge in den ertasteten Punk in seinem Hals, kräftig, schnell, nach oben und hinten. Sie drang ohne nennenswerten Widerstand ein, Blut ergoss sich heiß und schwarz über ihre Hand, und begleitet von einem leisen Seufzen rollten die braunen Augen nach oben, sein Gesicht erschlaffte und der leblose Körper fiel nach vorne in ihre Arme. Sie ließ ihn sanft zu Boden gleiten, zwischen das Moos und den Dreck, zwischen Pfützen und Schlamm, in ein kaltes, regennasses Bett. Einen Augenblick lang sah sie auf ihn herab, brannte seine Züge in ihr Gedächtnis: die dunklen Male, die ihre blutigen Finger auf seinem Gesicht hinterlassen hatten, die strähnigen Haare von Blut und Regen an seine pockennarbigen Wangen geklebt, die braunen Augen blicklos in den leeren Himmel starrend. Der Anblick, den sie in Erinnerung behalten wollte. Das war nicht Teil der Abmachung, sie hätte den Mann töten können, mit verbundenen Augen und geknebelt, ohne jemals sein Gesicht zu sehen oder seine Stimme zu hören. Der Dämon forderte nur Blut, Menschenleben, ihm war es einerlei ob Sünder oder Heiliger, jung oder alt, willig oder gewaltsam. Aber sie musste das tun. Sie musste das tun, um sich daran zu erinnern, dass sie jedes einzelne Mal ein Leben auslöschte, mit allem Freud und Leid, mit all seinen Geschichten, Vergehen und Heldentaten. Sie musste sich daran erinnern, um nicht gleichgültig gegen das Töten zu werden. Um nicht zu vergessen, dass sie immer noch ein Mensch war. Ihr Leben war bis hierher bedauerlich geprägt von Gewalt, Kampf und Tod in allen Schattierungen, aber sie sträubte sich immer noch, das als selbstverständlich anzusehen, sie weigerte sich beharrlich, sich der Dunkelheit zu ergeben. Es quälte sie, es verfolgte sie. Aber es ließ sie am Leben, sie, Izadora dan Akijos, die sie einmal gewesen war. Wenn sie das verlor, konnte sie aufhören, sich gegen den Dämon zu stellen.
Gnade wird denen zuteil, die erdulden...
Sie sah den Toten an, solange sie es ertrug, die Finger um den Griff ihres Messers gekrampft, die Zähne zusammengebissen. Dann kniete sie sich neben ihn und drückte seine Augen zu, die bereits stumpf zu werden begannen. Sie holte tief Luft, hob die breite Klinge. "Also gut", flüsterte sie. "Tu, was du tun musst. Wie ich dich halte, so lasse ich dich los..." Mit schnellen Schnitten öffnete sie die Pulsadern des Mannes über die ganze Länge seines Halses und seiner Unterarme. Die feuchte Haut klaffte weit, Blut strömte dick und schwarz aus den Wunden, immer noch dampfend, lebendig in der kalten Luft. Iza fühlte den Dämon erwachen, sich krümmen unter den Ketten, als sie ihn sehen ließ, was sie sah. Sie fühlte sein Entzücken, seine Faszination, seine Begierde, abstoßend und betörend zugleich, wie die künstliche Lust durch Rauschkraut. Sie fühlte seinen Hunger, als sie mit den Augen dem dunklen Strom folge, der sich aus dem Körper des Ermordeten ergoss, die abgründige Sehnsucht, die nichts Irdisches jemals stillen konnte, das wahnsinnige Verlangen nach Antworten, nach Sinn, nach Erkenntnis. Es erfüllte sie, steckte sie an wie eine Krankheit. Dunkelrot glänzten die Ränder des zerfetzten Fleisches im fahlen Licht, wie Rubin, wie Glut, von geradezu obszöner Schönheit. Die schwarzen Tropfen funkelten, ein winziger, brillanter Lichtpunkt auf jedem einzelnen von ihnen. Das Blut leuchtete, schimmerte gegen die bleiche Haut des Toten, gegen die dunklen Steine, frei, pulsierend mit Leben, selbst im Verlöschen noch strahlend. Licht ging davon aus. Sie legte den Kopf schräg, kniff die Augen zusammen. Das Blut, das Licht, es ergab Muster, wenn man genau hinsah. Muster von unbegreiflicher Komplexität, wie ein Webteppich aus Klarheit. Es bewegte sich, war im Fluss, ständig in Veränderung, flackerte und schwebte in den Strömungen der Schöpfung. Es sprach zu ihr, in keiner Sprache, der Menschen mächtig gewesen wären. Die Antworten waren da, in diesem Licht, die Antworten nach der sie/er über Äonen gesucht hatte, gerade außerhalb ihrer/seiner Wahrnehmung, ein winziger Teil des kosmischen Mosaiks.
Das Geheimnis der Schöpfung. Ausgebreitet wie ein Spinnennetz, wie ein offenes Buch.
Er starrte es an, die überwältigende, unfassbare Wahrheit des Musters aus Leben, geschrieben in elementarem Blut, er sog es in sich auf, verschlang es, verzehrte es, Rausch, Verzückung, Glückseligkeit...
Es dauerte eine Weile, ehe sie in die Wirklichkeit zurückfand. In die Realität der nebligen, stinkenden Gosse, in der sie über einer blutleeren Leiche kniete, die Arme mit den beiden besudelten Messern weit ausgebreitet, wie um einen Segen zu empfangen, umweht von den immer noch reinweißen Laken auf den Wäscheleinen. Langsam ließ sie die Hände sinken, blinzelnd, wie aus einem Traum erwachend.
Sie holte zitternd Atem. Wartete. Lauschte.
Und hörte nichts, gar nichts. Niemand war hier, um sie zur Rechenschaft zu ziehen, um die Ungerechtigkeit schreiend ans Licht zu zerren. Keine Stimmen flüsterten in ihrem Geist, keine unirdischen Gelüste rissen an ihren Nerven, keine schmerzhaften Sinneseindrücke drangen auf sie ein. Sie fühlte sich... ruhig. Ein Gefühl, das sie schon fast vergessen hatte.
Suzuamur schlief.
Sie schaute an sich herab. Die Vorderseite ihres Hemds war blutverschmiert, ihre Hände, die Waffen. Gleichmütig wischte sie die Dolche an der Kleidung ihres Opfers ab und ließ sie in die Gürtelschlaufen gleiten. Sie stand auf, überrascht über die Mühelosigkeit der Bewegung, warf einen Blick über die verrammelten Fenster des Innenhofes. Der Nebel hatte sich etwas gelichtet, aber niemand schien sich für das Drama auf dem nassen Pflaster zu interessieren. Soviel zu den geheimnisvollen Verbindungen der Lebenden. Gut, umso besser. Sie bezweifelte, dass der Dämon es zulassen würde, dass sie gefangen wurde, Schlaf und Fessel hin oder her, und sie fühlte wenig Bedürfnis nach einem Kampf. Sie sah hinunter auf das Gesicht des Toten zu ihren Füßen, schluckte kummervoll, aber weit entfernt von der Quälerei, die jeder erste Blick in die Augen eines Opfers für sie bedeutete. Flüchtig frage sie sich, ob wohl jemand nach ihm suchen würde, eine Ehefrau, oder ein Kind. Eine Tochter vielleicht...
Sie schob den Gedanken beiseite. Vergewaltiger. Sie hegte keinen Zweifel daran, dass er sich nicht nur aufs Zuschauen beschränkt hätte, noch das dies sein erstes Vergehen der Art war. Er hatte es verdient, im Licht des Tages besehen. Die Zeit für Reue würde kommen, unweigerlich, für Gewissensbisse, für Gram. Aber nicht jetzt. Jetzt musste sie tun, weswegen sie am Abend mit einem Dutzend Diebe und Mörder ausgezogen war, bewaffnet mit Stechapfelgift.
Und dann war es Zeit für sie, zu ruhen. Zu schlafen, traumlos, und zu essen. Sie zog ihren Mantel über die Blutflecken auf ihrer Kleidung und verließ den Ort mit raschen Schritten, ohne einen Blick zurück.
Es war außerdem Zeit für ein ausgiebiges, heißes Bad.
Das Buch der Pforten schrie, als sie es verbrannte. Ein hohes, schrillen Pfeifen wie das Zischen von heißem Fett im Feuer, nur irgendwie... menschlicher. Die Seiten krümmten sich, schwärzten sich, rollten sich auf und zerfielen zu Asche wie gewöhnliches Papier, aber die verschlungenen Buchstaben glühten, wanden sich als versuchten sie, aus dem Inferno zu fliehen, das sie verschlang, ehe sie erstarrten und verblassten wie Glühwürmchen.
Iza betrachtete die Flammen, die sich durch die tanzenden Lettern fraßen, betrachtete die weiße Asche, die harmlos auf den rußigen Boden des Kamins segelte. Sie fühlte das Buch entfernt an den Rändern ihres Bewusstseins kratzen, als es starb, aber sie hatte eine schreckliche Nacht hinter sich und war in keinerlei Stimmung, diesem kümmerlichen Versuch der Manipulation auch nur einen fußbreit Raum zu geben. Sie war zu müde, zu enttäuscht, zu hoffnungslos dafür. Sie sah die Seiten brennen, eine nach der anderen, und eine gewisse Taubheit kroch in ihr hoch, als sie sie einzeln, bedächtig aus dem roten Leder riss und ins Feuer warf. Ja, es hatten viele Hoffnungen auf diesem Text geruht, und viel Leid war notwendig gewesen, um ihn in ihren Besitz zu bringen, ihres und das von anderen. Aber schlussendlich hatte sie nicht wirklich damit gerechnet, dass die Worte ihr einen Weg zeigen konnten, den Dämon zu bannen ohne den Wirt dabei zu töten. Khalris hatte es ihr gesagt, damals, vor Jahren, als er sich nicht dazu hatte durchringen können, ihr einen schnellen, schmerzlosen Tod zu gewähren. Sie erinnerte sich daran, an seine Silhouette vor dem Fenster, das Licht zu grell für ihre Augen. Es hatte seine bebenden Schultern mit einem weißen, glühenden Rand umzeichnet, als er um sie weinte. Als er ihr sagte, dass es keine Möglichkeit gäbe, sie zu befreien.
Sie rieb gedankenverloren die wunden Runen auf ihren Handgelenken, die er gestochen hatte. Keine Möglichkeit, außer der einen. Eine schwache Hoffnung, ohne Frage, aber genug, um sie weiter zu treiben, über die Wochen, die Monate, die Jahre. Der Wahre Name. Das innerste Geheimnis eines jeden denkenden Wesens, mächtiger als jeder Zauberspruch. Das einzige, das ihr genug Gewalt über Suzuamur, den Unerfüllten, geben konnte, um die Bande zu durchtrennen, die sie aneinander fesselten, ohne ihn freizulassen, ohne sich selbst dabei zu verlieren. Eine sehr, sehr schwache Hoffnung.
Die letzte Seite wanderte ins Feuer, zischend und schreiend, gefolgt von dem leeren Einband. Das Feuer flammte einmal hoch, schwarzer Rauch wallte ihr entgegen als die Flammen das rote Leder versengten, dann war nichts übrig vom Buch der Pforten als feine weiße Asche, die sie in eine zweckentfremdete Vase zusammenkehrte. Was immer sie heute Nacht verbrochen hatte, sie hatte auch etwas Gutes getan: sie hatte die Welt von einem heimtückischen, bösartigen und gefährlichen Werk befreit, und das war nicht übertrieben.
Sie öffnete das Fenster, atmete tief die winterliche Luft, die ihr jetzt wieder erfrischend klar erschien statt mörderisch kalt. Die blasse Sonne schimmerte hauchzart durch den Wolkenschleier, schwach, aber zäh. Tapferes Licht fiel auf ihr Gesicht und ihre Hände.
Iza betete mit geschlossenen Augen. Sie spürte selten den Wunsch nach einem Zwiegespräch mit dem Göttlichen, aber in Anbetracht ihrer auch nach der heutigen Nacht andauernden Existenz erschien ihr ein Wort des Dankes angebracht. Oder auch hundert.
Ein sachter Wind ergriff Besitz von der Asche des unheiligen Buches, als sie das Gefäß in die frostige Luft entleerte. Mehr als ein Jahr war es Ziel ihres ganzen Strebens gewesen, und jetzt waren seine Überreste in einer Sekunde über den nassen Dächern verstreut, unwiederbringlich. Sie folgte den Fetzen mit dem Blick, bis sie vor dem weißen Himmel verschwunden waren. Für einen Moment packte sie eine unbändige Sehnsucht, ihnen folgen zu können, zu schwinden, zu verschwinden. Zu vergessen.
Sie biss die Zähne zusammen, wie so oft. Irgendwann würde sie nicht mehr kauen können vor lauter Knirschen. Kein Sinn, darüber zu jammern. Sie musste weitermachen. Das Leben war selten freundlich, zu ihr nicht und auch zu sonst niemandem, und Gnade wurde nur jenen zuteil, die erduldeten. Sie betrachtete den hellen Sonnenpunkt durch ihre blassen Finger hindurch, nicht mehr blutig, aber niemals wieder unbefleckt.
Sie würde sich Gnade verdienen. Morgen. Und am Tag darauf, und am Tag darauf.
So lange es nötig war.
* * *